Nach der Therapie bin ich immer voller Schreibbedarf. Meistens gehe ich danach in ein Café, darum werdet ihr wohl noch eine Million mal lesen „Ich sitze gerade im Café und…“. Gerade bin ich richtig müde von der Sitzung. Es ist so so anstrengend. Alle Gedanken und Gefühle rauszulassen, so viel zu überlegen, zu versuchen, alles zu ordnen und je mehr man redet, desto chaotischer wird alles im Kopf. Normalerweise wird es eher ordentlicher, aber heute nicht. Nach 50 Minuten reden fühle ich mich als hätte ein Boxer auf mein Gehirn eingeprügelt. Mir ist ein wenig schwindlig und ich will mich am liebsten vor ihre Haustür legen und schlafen.
Aber um was ging es überhaupt? Es ging um meinen beruflichen Weg… seufz.
Ich versuche ja wirklich, positiv zu denken und mit dem Sorgenmachen aufzuhören. Aber manchmal bricht alles aus mir raus. Wie heute morgen im Bus und ich fühlte mich auf einmal wie ein Versager. Sechs verdammte Jahre lang habe ich studiert. SECHS. JAHRE. LANG. 72 Monate. 2160 Tage. Wenn ich pro Tag 8 Stunden gelernt habe (was ich im Durchschnitt getan habe), habe ich 17.280 Stunden lang gelernt. Und jetzt… biege ich auf einmal nach links ab, ein völlig anderer Weg und es scheint, als wären diese 17.280 Stunden völlig umsonst gewesen?! Das tut weh.
Ein Optimist würde jetzt sagen:
Ingrid. Du hast nicht umsonst studiert. In dieser Zeit hast du so viel über dich, die Menschen und die Welt gelernt. Du hast endlich gemerkt, was dir gut tut und was nicht, was du vom Leben willst. Das wusstest du mit 21 noch nicht. Wie solltest du damals für dein ganzes restliches Leben entscheiden? Manchmal geht man eben einen Weg 100 km lang und dann sieht man einen anderen, schöneren Weg und biegt ab. Was ist daran verwerflich? Und wenn du diesen Weg weitergehst und er irgendwann dunkel und hässlich wird, kannst du doch wieder zurück! Es ist keine endgültige Entscheidung, als würdest du ein Bein abhacken, die Psychotherapeuten-Laufbahn steht dir doch noch offen!
Ist das so? Ich stelle mir immer wieder vor, wie ich in 2, 3 oder 4 Jahren doch wieder Psychotherapeutin werden will, mich bewerbe und die Leute fragen „Was haben Sie denn so lange gemacht?“. Und was soll ich dann sagen? Ich hatte eine Krise und wollte mal schauen ob ich meinen Kindheitstraum, Schriftstellerin zu werden, doch noch erfüllen kann? Aber es hat doch irgendwie nicht geklappt und jetzt will ich wieder Therapeutin werden?! Mir fällt wirklich keine anständige Begründung ein. Und was mach ich dann, wenn sie mich nicht nehmen? Eigentlich will ich schon irgendwann noch Therapeutin werden, aber erst viel später… Dafür muss ich stark und stabil sein, Stress aushalten und mich für 5 Jahre verpflichten. Was wenn sie mich dann nicht mehr nehmen?? WAS DANN?
Wer sagt denn bitte, dass man direkt nach dem Psychologie-Studium die Ausbildung machen muss?! Man kann doch studieren, sich dann in anderen Dingen ausprobieren und erst wenn man älter und „weiser“ ist, die Ausbildung anfangen. Du kannst doch sagen, dass du zwei Leidenschaften hattest, Schreiben und Psychologie (was auch stimmt). Dass du erstmal studieren wolltest um etwas Festes zu haben und um dir die Möglichkeit, Psychotherapeutin zu werden, offen zu lassen. Und um nach dem Studium beide Leidenschaften zu verbinden und über Psychologie zu schreiben. Vielleicht schreibst du bis dahin auch ein Buch, das du vorweisen kannst. So hört sich doch alles gar nicht mehr so doof und sprunghaft an. Hmm?
Hmm. Vielleicht hast du recht, lieber Optimist in meinem Kopf? Vielleicht sehn die das nicht so eng? Ich habe halt immer das Gefühl, als würde dann mein Studium nichts mehr wert sein. Als hätte ich gar nicht studiert.
Dochhh es ist noch immer genau so viel wert wie am Anfang! Die Psychologen in den Instituten kennen sich doch aus mit Persönlichkeitsentwicklung und achten tausend mal mehr auf deine Persönlichkeit, als auf deinen Lebenslauf!
Sicher…?
…
SICHER????
Hier wird sogar meine optimistische Seite unsicher! Mein ganzes Leben lang höre ich schon von der Relevanz eines interessanten, ausdrucksstarken, lückenlosen Lebenslaufs! Und auf einmal soll er doch nicht mehr so wichtig sein?
Verdammter Lebenslauf!!!!!! Wieso muss es sowas geben!!! Und wieso werden wir Menschen permanent unter Druck gesetzt!! Perfekt zu funktionieren, perfekt perfekt perfekt!!! WAS MACHE ICH MIT DER VERDAMMTEN LÜCKE IN MEINEM LEBENSLAUF!!!!!
Vielleicht… solltest du… einfach nicht mehr bei dem Spiel mitmachen… Wenn jeder mitmacht, wird es sich nämlich nie ändern. Vielleicht gibt es auch eine andere Art zu leben… Vielleicht gibt es irgendwann eine Revolution. Irgendwie glaube ich das wirklich. Denn so wie die Welt jetzt ist, werden die Menschen zerbrechen, einer nach dem anderen. Burnout, Depressionen, die Kliniken sind voll, die Therapeuten ausgebucht. Warum? Irgendwas machen wir Menschen falsch. Und ich bin sicher, dass die Schule und der Berufsweg etwas damit zu tun haben.
Also Ingrid, denk dir einfach: Du gehst als gutes Beispiel voran. Du scheisst auf das dämliche Konstrukt eines Lebenslaufs. Du scheisst auf einen perfekten Berufsweg, auf das „ich sollte dies und das tun“. DU bist die Revolution. Zusammen mit einigen anderen, deren Zahl immer größer wird. Und wie kannst du dann ein Versager sein?
Du tust was du liebst, probierst Dinge aus und alles wird gut. Fehler sind okay, Abbiegungen sind okay und das musst DU und das müssen ALLE um dich herum lernen. Kein Leben muss perfekt sein. Es ist DEIN DEIN DEIN Leben und damit kannst DU machen was du möchtest.
KAPIERST DU DAS?!
…
Ja…
Danke ♥
Valerie
Ich verstehe deine Zweifel. Ich mache mir auch große Gedanken wegen diesem „lückenlosen Lebenslauf“ und dass ich den nicht mehr vorweisen kann. Und das bereitet mir ebenfalls Sorgen. 🙁
Ich hoffe für dich, dass es leichter wird als du dachtest und deinen Weg noch finden wirst. Da bin ich mir sicher. 🙂
Ich mag deinen Blog übrigens wirklich gerne.
Liebe Grüße,
Valerie
Ingrid Cat
Danke für deine lieben Worte 🙂 Diese blöden Sorgen… Es ärgert mich so dass es so viel gibt worüber man sich Sorgen machen kann (Dinge die von Menschen erfunden wurden), anstatt einfach das Leben zu genießen 🙁 Aber wir werden es schaffen, alles lockerer zu nehmen, daran glaube ich!
<3
Anyone
Danke für Deinen sehr eindrucksvollen und ausdrucksstarken Blogpost.
Schreib bitte weiter.
Ich bin gerade selbst auch an einer…beruflichen Wegkreuzung und kenne die damit verbundenen Sorgen und Ängste sehr gut.
Ingrid Cat
Danke <3 Ich hoffe dass wir es schaffen, den Weg auszuprobieren den wir möchten, auch wenn es sich irgendwann herausstellt, dass es nicht der richtige war!! Es beruhigt mich zu hören, dass es anderen ähnlich geht <3
Katie
Hallo 🙂 Ich weiß nicht ob dir das hilft, aber immer mehr Arbeitgeber suchen eher interessante Leute, die gelernt haben sich und das Leben in Frage zu stellen (=Lücke im Lebenslauf und Platz für Persönlichkeit) statt so langweilgien, perfekten Leuten… denn die stellen nix in Frage sondern ahmen nur nach…. weißt du was ich meine? Eine Lücke muss gar nicht heißen, dass man planlos ist… ist man nicht eher planlos wenn man einfach immer weiter macht.. weil man einfach keine neue/bessere Idee hatte? Die Welt ändert sich… Maschinen werden immer perfekter… was gefragt ist, ist MENSCH sein, kreativ, überraschend, unvorhersehbar 🙂