Amélie hasste ihr Leben. Jeden Tag fragte sie sich, warum zum Teufel sie auf die Welt gekommen war. Sie lebte mit ihrer ganzen Familie in einem großen, alten Haus, doch obwohl sie alle um sich herum hatte, war sie völlig allein.
Ihr Zimmer war dunkel. Es gab keine Blumen für den Tag und keine Kerzen für die Nacht. Sie hatte Angst vorm Schlafengehen, weil sie die Vergeudung ihres Lebens mit jedem beendeten Tag stärker spürte. Darum blieb sie so lange auf, bis nur noch sie und die streunenden Katzen wach waren. Keine Lichter in den anderen Fenstern, die ihr ein Gefühl der Geborgenheit hätten schenken können. Alle schliefen, mit ihren Partnern an ihren Seiten, ihre Eltern und Großeltern, ihr Bruder, die gesamte Nachbarschaft und die ganze Welt.
Es war so still, da oben unter dem Dachboden. Jedes mal klopfte Amélies Herz, wenn sie Schritte über sich vernahm. Doch sie wusste, das war nur ihre Einbildung. Die Einbildung, die ihr oft Streiche spielte. Nachts wachte sie mit rasendem Herzen auf und suchte panisch nach dem Lichtschalter der Nachttischlampe, weil sie davon überzeugt war, jemand stünde neben ihr. Doch da war niemand. Kein einziges Mal. Sie blickte sich im Raum um, brauchte ein paar Minuten um sicher zu gehen. Dann schaltete sie das Licht aus und blieb mit offenen Augen liegen. Sie war nicht böse auf ihr Gehirn, dass es ihr nächtliche Besucher schickte. Angst war nun mal besser als Einsamkeit, das wusste auch Amélie.
Noch mehr als ihr eigenes Leben hasste sie die Schule. Sie lernte alles über Bandwürmer, Moleküle und die Wirtschaft, aber nie lernte sie, warum sie so traurig war. Allgemeinbildung war das Wichtigste in ihrer Gesellschaft, doch wieso, das hatte Amelie nie verstanden. Jedem neuen Lehrer stellte sie diese Frage und bekam stets die gleiche Antwort: Ein Lachen.
Die anderen Mädchen und Jungs in ihrer Klasse hatten andere Sorgen. Sie waren sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig zu mobben oder sich vor dem Mobbing zu fürchten. Amélie hatte das Glück und den Fluch, unsichtbar zu sein. Die Mobber hatten kein Interesse an ihr, die Jungs allerdings ebenso wenig. Die einzige männliche Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wurde, war die Verachtung und der Spott ihres Bruders. Jeden Tag teilte er ihr mit, wie hässlich und dumm sie doch war. Gegen seine Niedertracht wusste sie sich nicht zu wehren.
Aus diesem Grund veränderte Amélie später ihr Aussehen von Grund auf. Dank einer anderen Haarfarbe, Kontaktlinsen, Piercings und viel Lidschatten konnte sie sich in ein anderes Mädchen verwandeln. Sie hatte gelernt, schön zu sein, um die Liebe eines Mannes zu bekommen. Und siehe da, ein Jahr später wirkte die Scharade.
Fortsetzung folgt
(Zum Schutz beteiligter Personen wurden einige Unwahrheiten in die Wahrheit gemischt.)
Photo: Wilmakuchen
Schreibe einen Kommentar