Tagebucheintrag Nr. 1
Was war bloß los mit mir. Ständig wurde ich rot, bei jeder verdammten Frage, die mir gestellt wurde, bei jedem verdammten Satz, den ich sagen musste. Es hatte so harmlos angefangen und wurde zu meinem Albtraum.
Doch wo soll ich anfangen, mit dieser Geschichte? Vielleicht mitten drin?
Ich war fast am Ende meines Psychologie-Studiums und absolvierte gerade ein Praxissemester in einer Klinik. Anfangs war alles okay und ich hatte total Spaß daran, den Patienten zuzuhören und zu beobachten, wie die Therapeutin auf sie einging, welche Fragen sie stellte und wie die Patienten untereinander agierten.
Doch schon am zweiten Tag war meine Beobachterrolle vorbei und ich sollte am Ende der Gruppentherapie vor mehreren Therapeuten und Pflegekräften zusammenfassen, über was denn gesprochen wurde. Das kam so plötzlich, denn ich kannte noch nicht mal die Namen der 10 Patienten, und konnte nicht zuordnen, welcher Name zu welchem Problem gehörte. Also stammelte ich irgendwas vor mich hin, bis die Therapeutin das Zusammenfassen übernahm. Ich wurde rot. Und fühlte mich wie der letzte Trottel. Und damit fing alles an.
Auf einmal war ich aufgeregt, nach der Gruppentherapie ins Sprechzimmer zu gehen. Ich hatte Angst, wieder zusammenfassen zu müssen und dabei zu scheitern. Die Namen zu vergessen, zu lange zum Überlegen zu brauchen (die Besprechung sollte immer sehr schnell vonstatten gehen), zu stammeln und rot zu werden.
Rot zu werden. Rot zu werden. Rot zu werden.
Ich schämte mich jedes mal zu Tode, wenn ich rot wurde. Denn in diesen Momenten konnte man in mich hineinsehen. Ich wusste genau: Mein fehlender Selbstwert, meine Unsicherheit, die Tatsache, dass etwas mit mir nicht stimmte; alles lag entblößt vor den anderen – auch vor den „Feinden“ – und wartete darauf, beurteilt zu werden. Schutzlos. Schwach. Wie eine Schnecke ohne Haus.
Und so entstand die Angst vor dem Rotwerden. Erythrophobie. Und diese Angst machte mich zu einem kleinen, verschüchterten, stummen Ding, das nicht mehr es selbst war.
Ich merkte, wie ich immer schneller und häufiger rot wurde. Wie meine Angst, etwas zu sagen, von Tag zu Tag wuchs. Besonders die Vorstellungsrunden wurden ein Horrorszenario für mich. Nie in meinem Leben hatte ich so viel Panik davor, meinen Mund aufzumachen und dabei beobachtet zu werden. Mein Herz raste, ich wurde knallrot und hätte ich einen einzigen Wunsch gehabt, wäre er der gewesen, mich in ein Mäuschen zu verwandeln und wegrennen zu können.
Ich verstand nicht, wo das alles auf einmal herkam. Ich hatte schon ein- und zweistündige Präsentationen hinter mir, die mir nicht so schwer gefallen waren wie diese verdammten Vorstellungen. Irgendwas passierte während diesem Praktikum mit meiner Psyche und was es genau war, erfuhr ich erst ein Jahr später, während meiner Therapie.
Ich musste irgendetwas gegen diesen Zustand tun. Also suchte ich im Internet nach Tipps gegen Erythrophobie.
„Was ist so schlimm daran, wenn andere sehen, dass Sie rot werden? Akzeptieren Sie das Rotwerden und gehen Sie spielerisch damit um.“
„Erlernen Sie folgende Atemübung…“
„Stärken Sie ihr Selbstwertgefühl, indem Sie sich mehr auf Ihre Stärken konzentrieren.“
„Andere Menschen assoziieren das Rotwerden nicht mit Ängstlichkeit oder Versagen, sondern eher mit Offenheit, Menschlichkeit oder Verliebtheit.“
Danke. Nichts davon änderte auch nur ein Bruchteil meines Problems.
Ich probierte jeden verdammten Tipp aus. Ich übte Atemübungen, Meditationen gegen Angst und Panik, alles mögliche. Hundert mal am Tag sagte ich mir, dass es doch nicht schlimm sei, rot zu werden. Dass die anderen das nicht erbärmlich, sondern liebenswert fänden. Ich wollte mein Problem akzeptieren, mein Rotwerden und meine Unsicherheit annehmen.
Ich konnte es aber einfach nicht. Mein Kopf sagte mir, dass es nicht schlimm war, mein Gefühl aber war anderer Meinung. Ich hasste das Rotwerden mehr als alles andere.
Die Tipps funktionierten also nicht. Anstatt einer Besserung wurde es mit jeder Woche nur noch schlimmer.
Doch alles hat einen Grund, oder? Manchmal denke ich, ich musste das alles nur erleben, um herauszufinden, wie man wirklich mit Erythrophobie umgeht. Um endlich eine richtige Therapie zu beginnen und die Wurzeln meiner Zurückhaltung, Angst und Scham kennenzulernen.
Und das tat ich. Ich lernte sie in- und auswendig. Aber dazu später mehr.
Deine Amélie.
Photo: www.unsplash.com
Sanail
Ja ich habe das gleiche Problem ich weiß einfach nicht mehr weiter ich bin am ende bitte sag mir was mir helfen kann bitte bitte