In meiner Beschreibung steht „28-jährige Psychologin und Bloggerin aus Hamburg“. Jedes mal wenn ich das sehe, fühle ich mich schlecht, schäme mich sogar irgendwie, weil ich denke „ich bin doch eigentlich gar keine Psychologin“. Ich arbeite nicht als Psychologin, also bin ich keine. So fühlt es sich an.
Dieses Gefühl habe ich seit Weihnachten letzten Jahres, als eine Freundin sagte „Ingrid ist keine Psychologin, sie ist gar nichts solange sie arbeitslos ist. Ich bin auch gar nichts solange ich arbeitslos bin.“ Mein Freund widersprach und meinte, wenn man den Abschluss hat, dann kann man sich auch so nennen. Meine Therapeutin meinte heute dasselbe. Dass z.B. ein Lehrer, der drei Jahre lang arbeitslos ist, noch immer Lehrer ist.
Ist das so?
Wenn ich mich selbst als Psychologin bezeichne, kommt es mir so vor, als würde ich mich mit fremden Federn schmücken. Als würde ich vorgaukeln, etwas zu können, das ich gar nicht kann.
Ich habe meine Therapeutin gefragt, ob es allgemein so gesehen wird, dass man sich, sobald man einen Beruf erlernt hat, auch so nennen darf. Sie gab keine eindeutige Antwort.
Was spricht dafür und was dagegen?
„Psychologe ist die Berufsbezeichnung von Personen, die das Studium der Psychologie an einer Universität erfolgreich absolviert und als Diplom-Psychologe (Dipl.-Psych.) bzw. Master of Science (M.Sc. Psychologie) abgeschlossen haben. Damit verbunden ist die Fachkunde zur Beschreibung, Erklärung, Modifikation und Vorhersage menschlichen Erlebens und Verhaltens. […]“
Nach kurzer Recherche finde ich keine weiteren Informationen als „Mit Diplom- und Master-Abschluss im Hauptfach Psychologie darf man sich Psychologe nennen.“
Also? Warum fühlt es sich dann so falsch an?
Was denkt ihr über diese Sache? Eure Meinungen würden mich wirklich interessieren.
Und warum ist das alles wichtig?
Heute in der Therapie haben wir über mein Psychologie-Studium geredet. Ich habe seltsame Identitätsprobleme wenn es um das Studium geht. Es fühlt sich an als wäre ich keine Psychologin, als hätte ich nie studiert, als wären die 6 Jahre von jemand anderem gelebt worden.
Wie oft saß ich da, in meinem Zimmerchen im Wohnheim, habe Präsentationen vorbereitet oder aus irgendwelchen selbstgemachten Karteikarten gelernt? War das wirklich… ich? o.O
Ich habe das Gefühl, als würde mir dieses ganze Wissen entgleiten und als würde mein Studium langsam aber sicher seinen Wert verlieren. Was wenn ich in 10 Jahren entscheide, die Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin zu machen? (Was ich mir gut vorstellen kann.) Ist mein Studium dann noch was wert?! Oder wird nur auf mein Lebenslauf geschaut und gesagt „WAAAAS haben Sie in der Zwischenzeit gemacht!!!!!“. Meine Therapeutin meint, das Studium ist dann noch immer wertvoll und ich könnte noch immer die Ausbildung machen. Wenn ich ihr glauben könnte, wäre ich extrem erleichtert.
Denn mein größtes Problem derzeit…
…ist meine Zukunftsangst. Meine Angst, nichts aus mir zu machen, zu scheitern, etwas zu versuchen und es dann doch nicht mehr zu wollen, etwas zu versuchen und es nicht zu schaffen. Und mich dann mit etwas weniger Schönem begnügen zu müssen. Angst Angst Angst. Sorgen Sorgen Sorgen. Ich glaube, Angst und Sorgen sind bei mir ein größeres Problem als die Depression. Besser gesagt: Ich glaube, Angst und Sorgen lösen die Depression aus. Oder stacheln sie an. Was auch immer.
Ich muss mich selbst beruhigen.
Gegen „Das Studium war umsonst, 6 Jahre Quälerei für nichts und ich bin ein Versager weil ich jetzt nicht weitermache“
- Du bist kein Versager, nur weil du jetzt nicht als Psychologin arbeitest!! (Ja ich habe eine gespaltene Persönlichkeit und rede mit mir selbst.) Nur weil man etwas studiert, heisst das noch lange nicht, dass man den Weg weiter gehen muss. Wer sagt das denn? Wie viele Leute im kreativen Bereich studieren irgendetwas, z.B. Literaturwissenschaften oder so, und arbeiten dann doch nicht genau in dem Bereich?! Es hat nichts mit Versagen zu tun, wenn du dich bewusst für einen anderen Weg entscheidest. Ich weiß, du denkst „die Ausbildung als PP hätte ich vielleicht gemacht, wenn ich psychisch nicht so schwach gewesen wäre, also ist das Versagen.“ Scheisse. Dieses Argument kann ich nicht entkräften. Oder vielleicht doch? Du bist KRANK geworden. KRAAAAAANNNNNKKKKK. So als hättest du Krebs bekommen. Ist jemand der Krebs bekommt und deswegen einen Berufsweg nicht weitergeht, ein Versager?! Nein auf gar keinen Fall. Aber ein Depressiver schon? Oh mann. Da sieht man wieder mal wie psychische Erkrankungen wahrgenommen werden. Du kannst doch nichts dafür dass du krank geworden bist :'( (Ich fühle mich aber so als wäre ich selbst schuld oder so… Als wäre ich einfach zu SCHWACH…)
- Aber du siehst nur dich als zu schwach und als Versager an. Mit jemand anderem, der arbeitslos ist/ gerade nicht mehr weitermachen kann/ nicht weiter weiß, hast du eher Mitgefühl und denkst nur Positives über ihn. Es liegt also an deinem niedrigen Selbstwert, dass du dich so verurteilst.
- Das Studium war nicht umsonst! Du hast dich währenddessen weiterentwickelt, hast sehr viel gelernt über die Psychologie des Menschen, hast Selbstwirksamkeit entwickelt und Disziplin in bestimmten Dingen. Du wärst vielleicht ein ganz anderer Mensch, wenn du 2009-2015 etwas anderes gemacht hättest.
- Bereue nicht das Studium. Was wäre denn besser gewesen? Keine Ausbildung, kein Studium hat dich so sehr interessiert wie Psychologie. Und direkt Schriftstellerin werden nach dem Abi, ohne einen Beruf erlernt zu haben, das ginge doch nicht. Es wäre zumindest sehr unsicher gewesen und jetzt hast du eine Absicherung. Was ist denn besser als das?!? Sieh es doch mal POSITIV! Weißt du noch, als du 20 warst, Regie studieren wolltest und dich dann doch für Psychologie entschieden hast? Du dachtest „Ich mache jetzt erstmal Psychologie und habe dann etwas Sicheres, Gutes in der Tasche. Danach kann ich noch immer Filme machen.“ Genau das hast du gedacht! Und was machst du jetzt? FILME! (Und natürlich schreiben.) Also was soll falsch daran sein?!
- Mehr fällt mir gerade nicht ein.
Fazit
Ich muss mir eine andere Denkweise aneignen.
Ich muss mir immer wieder die Argumente durchlesen, die sagen, dass ich kein Versager bin und das Studium nicht umsonst war.
Ich muss anfangen, mich als Psychologin zu identifizieren und einzusehen, dass ich das Studium tatsächlich geschafft habe und dass das auch etwas zu bedeuten hat. Dass ich etwas kann/weiß, das andere nicht können/wissen. (!!!)
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Irgendwie verrückt, was die Gedanken und die Psyche so mit einem machen, oder?
Nadine Wahl
Hallo Liebes,
du bist kein Versager. Und fühle dich mal an dieser Stelle ganz fest umarmt. Du hast einen Abschluss. Du hast einen richtigen, echten Abschluss und kannst damit machen, was du willst. Wenn du also erst in 10 Jahren die Ausbildung machst – was soll’s?! Wie Viele gibt es, die nach dem Abi erstmal machen, was sie wollen? Oder ins Ausland gehen. Wie viele gibt es, die erst mit 30 anfangen zu studieren? Das ist ja alles nicht schlimm. Nur macht es uns die Gesellschaft glauben. Und die Bilder in unserem Kopf, die dieses feste, niemals abweichende Leben vor Augen haben. Aber das ist doch nicht realistisch. Und weil du es eben nicht so machst, heißt das nicht, dass du falsch bist. Du bist genauso richtig wie alle anderen.
Und du machst doch etwas: du kümmerst dich darum, wieder gesund zu werden. Und du schaust, wohin es mit deinem Leben gehen soll. Und das, liebe Ingrid, ist doch ganz wundervoll! 🙂 Andere Menschen schauen erst so genau hin, wenn sie 70 oder 80 sind. Stell dir das mal vor… ich will nicht sagen, dass dann schon alles vorbei ist, aber wie wertvoll ist es denn bitte, das Wichtige im Leben schon früh zu erkennen und schon früh danach leben zu können?!
Und nur weil du vor 7 Jahren diese Idee von deinem Zukunfts-Ich im Kopf hattest musst du dich jetzt nicht als Versager fühlen, wenn dein Jetzt- Ich dem Bild eben nicht entspricht. Na und? es geht ja auch darum, glücklich zu sein, oder?
Liebe Grüße,
Nadine
Ingrid Cat
Deine Worte sind sooo wahr, „das ist ja alles nicht schlimm“, JAAAA!!! Wenn man mit solchen Worten und solcher Gelassenheit aufwachsen würde, wäre das Leben viel einfacher 🙂 Ich bin so sehr ge-brain-washed ^^ durch meine Eltern und die Gesellschaft.. Aber ich glaube daran, dass sich das ändern kann. Und solche Leute wie DU helfen mir so sehr dabei! Danke danke danke <3
Nadine Wahl
Haha, das bin ich aber auch! Erst über Weihnachten hatte ich wieder eine fürchterliche Diskussion mit meinen Eltern, dass ich ja mal daran denken solle, wie alt ich jetzt bin und dass ich doch endlich unabhängig und für meinen Abschluss sorgen solle. Da kam natürlich alles wieder. Alles, was ich in 2 Jahren Therapie irgendwie zu negieren und umzukehren versuche und all die Versager- Geschichten und „Nadine wird es ja nie weit schaffen“ Gedanken. Ich hoffe, dass ich das meinen Kindern niemals antun werde und ich sie dazu aufziehe, glücklich zu sein und nicht mit x Jahren einen Abschluss zu haben und mit x Jahren verheiratet zu sein.
Manchmal ist es so unglaublich schwer, anders zu sein und gegen den Strom zu schwimmen. Manchmal kugle ich mich auch einfach nur zusammen und hasse mich und die Welt und die Gesellschaft und alles. Und eigentlich wollte ich mit etwas Positivem abschließen… hm.
Also mittlerweile gibt es auch solche Momente, wo ich mir einfach nur denke „Ja und? Aber das ist ja nicht mein Leben. Ich bin nämlich gottverdammter Autor!“ Und diese kurzen Momente tun so unfassbar gut. Vielleicht werde ich nie reich oder eine tolle Ausbildung haben. Vielleicht werde ich jeden Monat für den Rest meines Lebens jeden Euro umdrehen müssen. Aber solange ich schreiben kann, kann ich glücklich leben.
Gitta
Hi,
normalerweise kommentiere ich keine Artikel oder so, aber dieser Beitrag hat mich unglaublich berührt!
Wahrscheinlich, weil ich selber in dieser Situation war, dasselbe gedacht habe, dieselben Argumente aufgestellt habe und trotzdem eine lange Zeit nicht daran geglaubt habe.
Ich habe eine Ausbildung absolviert, ein Bachelor- und ein Masterstudium hinter mir und alles mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Ich dachte auch, ich wäre ein Versager, weil ich noch studieren will und somit nicht mehr in meinem eigentlichen gelernten Beruf arbeite. Ich bin quasi von der Physiotherapeutin zur Ernährungswissenschaftlerin gewechselt… Und im Endeffekt war nichts davon verlorene Zeit! Ich habe eher unglaublich viel gewonnen. Aber es hat ein paar Jahre gedauert, um das zu realisieren.
Ich nenne mich trotzdem Physiotherapeutin, obwohl ich praktisch 9 Jahre nicht in diesem Beruf gearbeitet habe. Gebraucht habe ich dieses Wissen aber schon immer und es hat mir auch zu meinem jetzigen, unglaublich tollen Job verholfen.
Jetzt labere ich…. Ich wollte sagen, nenn Dich Psychologin, denn das bist Du! Und wenn Du nicht in diesem Beruf arbeitest, so what?!
Du wirst dieses Wissen trotzdem haben und es wird Dir garantiert trotzdem nützen.
Und: Alles wird mit der Zeit gut! Natürlich sollte man nicht untätig rumsitzen, aber das machst Du ja nicht. Du bist nicht nur arbeitslos und garantiert auch keine Versagerin deswegen. Ich war nach meinem Studium ein 3/4 Jahr arbeitslos. Natürlich macht es einen fertig. Aber es kann sich auch etwas Tolles entwickeln. Dies war bei mir der Fall. Auch im letzten Jahr, wo ich wieder an so einer Abzweigung stand, hat sich irgendwann was ganz Neues völlig überraschend ergeben.
Ich glaube, gerade Menschen wie wir, die zu viel nachdenken, zu wenig Selbstwert haben zuweilen und sich gerne auch mal Horrorszenarien ausmalen, müssen ganz besonders lernen loszulassen und zu vertrauen.
Glaub mir: Du bist gut, Du bist es wert und Du bist genug!
Sorry, wahrscheinlich liest Du das gar nicht durch, ist ja mega lang für einen einfachen Kommentar – Hupsi….
Liebe Grüße, mach weiter, Du schreibst toll!
Gitta
Ingrid Cat
ohhh natürlich lese ich das <3
Vielen vielen Dank für deine Worte, sie wärmen mein Herz <3
Dass es so liebe Leute auf der Welt gibt! 😀
Und ja, loslassen und vertrauen, das ist so wichtig. Ich versuche es immer wieder <3 Ich hoffe dir geht es gut!