Ich habe meine Therapeutin gefragt, ob es etwas bringen könnte, wenn ich euch einen Brief schreiben würde. In dem ich alles rauslasse, alle Gedanken und Gefühle, die ich euch nie mitteilen konnte. Ihre Reaktion darauf war überraschend, denn sie fragte, was genau ich mir von so einem Brief erhoffen würde. Welche Reaktion ich mir wünschen würde. Und ob ich glaube, dass diese Reaktion auch eintreffen würde.
Nein, sie würde nicht eintreffen. Sie wird niemals eintreffen.
Und das zu akzeptieren… das muss mein Ziel werden.
– Akzeptieren, dass ihr so wart wie ihr wart. Dass meine Kindheit und Pubertät so war wie sie war. Dass ich nichts rückgängig machen kann. Aber jetzt alles selbst in der Hand habe. Wo ich wohne, wen ich um mich habe, wie mein Kind aufwächst, das alles ist nicht verloren. Das alles bestimme ich.
– Akzeptieren, dass ihr so seid wie ihr seid. Ihr werdet euch nicht ändern. Ihr werdet euch nicht in die Eltern verwandeln, die ich mir in meinen geheimsten Träumen wünsche. Einen Vater, der seine psychische Stärke dafür nutzt, für mich da zu sein, über Probleme zu reden und mir Gelassenheit zu vermitteln. Eine Mutter, die, anstatt mir eine Million Sorgen und Ängste einzuflößen, mir zeigt, wie schön das Leben doch ist. Und dass alles gut werden wird, egal wie man sich entscheidet.
Ich muss lernen, mich von euren Eigenschaften zu lösen. IHR seid so, aber ICH muss nicht so sein. Ich kann das Leben locker nehmen. Ich kann Dinge ausprobieren. Ich brauche eure Zustimmung nicht. Oder Anerkennung. Ich muss LOSGELÖST VON EUCH leben!
Losgelöst von euch. Von eurem Einfluss auf mein inneres Kind. Von eurem Einfluss auf mein erwachsenes Ich. Losgelöst. Ihr seid dort, ich bin hier. Ich bin ich. ICH BIN ICH!
Ich habe andere Ideale, andere Wünsche, Moralvorstellungen und eine komplett andere Lebensweise als ihr. Ich bin anders. Und das ist VÖLLIG OKAY! Wir können trotzdem ein gutes Verhältnis haben, uns treffen, reden, lachen. Das müsst ihr verstehen. Akzeptiert, dass ich nicht bin wie ihr. Könnt ihr das? Kannst du das, Papa? Kannst du aufhören, mir Vorwürfe zu machen, dass ich nach Hamburg gezogen bin, so weit weg von der Familie? Kannst du aufhören mich zu fragen, wie lange ich noch arbeitslos bleibe und ob ich schon einen Cent verdient habe? Das wäre sehr nett von dir.
Wenn ihr das nicht könnt, dann… darf ich laut werden. Denn meine Therapeutin hat mir beigebracht, dass ich „bei mir“ bleiben, meine Meinung und meine Bedürfnisse vertreten soll. Meine Wut zeigen darf. Wenn ich nicht über Geld ausgefragt werden will und ihr weiterhin hundert mal fragt, dann darf ich euch zeigen, dass ich eure Fragen hasse. Dass sie mich unter Druck setzen und traurig machen. Ich muss es euch sogar zeigen. Denn bisher habe ich immer nur gelächelt, alles in mich hineingefressen, damit es zwischen uns harmonisch bleibt, doch dadurch habe ich genau das Gegenteil bewirkt: Ich habe mich emotional immer weiter von euch entfernt, bis ihr fast Fremde für mich wart.
Versteht ihr?
Ab jetzt werde ich ehrlich sein… ich werde es zumindest versuchen. Einfach wird das nicht sein! Denn ich kann so oft nicht aussprechen, was ich denke und fühle. Aber in dieser Sache muss ich mich ändern.
Es gibt noch so viel was ich euch sagen möchte. Gutes und Schlechtes. Aber erstmal belasse ich es dabei. Mein nächster Schritt im Projekt „Familie“ wird also sein:
Das Vergangene annehmen, euren Charakter akzeptieren, doch gleichzeitig ICH sein und dieses Ich verteidigen.
Ich hoffe, dass unser Verhältnis irgendwann wieder richtig schön wird. Ich hab euch lieb.
Eure Ingrid.
Miriam
Ich wünsche Dir ganz viel Erfolg beim „ehrlich sein“ und beim Verteidigen deines Ichs. Das ist eine Riesenaufgabe, aber Du hast das Problem ja schon sehr differenziert reflektiert.
Ganz liebe Grüße
Miriam
Ingrid Cat
Daaankeschön! Bei dieser Sache bin ich irgendwie zuversichtlich, dass ich es schaffen werde, ich weiß nicht wieso.. Vielleicht weil ich früher „mein Ich“ gegenüber meinen Eltern sehr gut verteidigen konnte, aber das irgendwie verloren gegangen ist… Danke für deinen Kommentar <3
Sabine
Liebe Ingrid,
das ist ein wunderschöner Brief. Ich wünsche dir alles Gute, egal wie du entscheidest, das Verhältnis zu deinen Eltern weiterzuführen.
Ich habe dir auf meinem Blog auf deinen Kommentar geantwortet – wollte dir die Antwort hier eigentlich nochmal reinkopieren, aber der Eintrag scheint mir zu wertvoll für etwas, das nichts damit zu tun hat.
xx
Sabine
Ingrid Cat
Sabine 🙂 Es freut mich sehr dass du zurückgeschrieben hast (und dass dir der Brief gefällt), vielen Dank für deine Worte und ich antworte dir auf deinem Blog auch noch 🙂 <3
Madlen
Liebe Ingrid. Kennst du diese russischen Holzpuppen, in deren Inneren je eine kleinere Puppe steckt? Matrjoschka. Ein schönes Bild dafür, dass die Erfahrungen, die wir als Kind gemacht haben, ein Teil von uns sind, uns aber nie ganz ausfüllen. Wir werden größer und älter und können als Erwachsene sehr vielen der erlebten Verletzungen oder Enttäuschungen tröstend begegnen. Nach deinem letzten Post zu diesem Thema habe ich lange nachdenken müssen, fast schon hätte ich dir geschrieben. Heute lese ich diese Worte und freue mich ganz sehr mit dir über diese Erkenntnisse und die Ideen, wie eure Versöhnung gelingen kann.
Alles Liebe für dich.
Madlen
Ingrid Cat
❤️