Ich will diesen Blogeintrag an Pia schreiben. Wenn ich an dich denke, fällt mir total viel ein, was ich sagen will. Zum Beispiel, warum die Situation gerade so schlimm ist. Und was ich vorhabe dagegen zu tun. Wenn ich nur so für mich schreibe, fällt es mir sehr schwer.
Also liebe Pia,
ich bin so froh, Menschen wie dich hier zu haben. Die einen mit ihren Worten einfach nur umarmen und man fühlt sich sicher und geborgen. Ich frage mich, wie es dir zur Zeit ergeht? Bist du auch ständig Zuhause? Belastet dich das oder ist es okay, z.B. weil du deine Kinder um dich hast? Und machst du irgendwas, was dir gut tut, z.B. regelmäßig spazieren gehen?
Bei mir ist es schon lange so, dass ich nicht so lange in einer Wohnung sein kann. Ich weiß noch, dass ich in Hamburg alle zwei oder drei Tage rausgehen musste, weil mir die Decke auf den Kopf fiel und ich mich erdrückt gefühlt habe. Damals war das aber kein Problem, weil ich einfach in meine geliebten Cafés gegangen bin oder an die Alster oder den Bramfelder See. Es gab so viele Orte, an denen ich gerne war. Zum Beispiel tat es mir schon gut, einfach mit der Bahn zum Jungfernstieg zu fahren, da ein bisschen rumzulaufen, die Möwen zu sehen, vielleicht noch ein neues Duschgel oder so zu kaufen und wieder nach Hause zu fahren.
Das alles habe ich hier nicht und hatte es nie. Vielleicht erinnerst du dich, dass ich ja jetzt in der Einliegerwohnung im Haus meiner Eltern wohne, in der Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Hier konnte ich noch nie irgendwo hingehen, z.B. spazieren oder so… Wie soll ich das erklären… Vielleicht kann man das gar nicht verstehen, da es wirklich komisch ist. Ich hasse es einfach, hier in der Umgebung unterwegs zu sein… Es erinnert mich nicht nur an meine schlechte Kindheit und Jugend, sondern jetzt auch noch an Nouki. Wir waren mit ihr auf einigen Spazierwegen und da will ich jetzt einfach nicht mehr hin. Ich würde ja auch mit dem Auto weiter wegfahren, aber ungern alleine und da ist das nächste Problem. Ein Doppel-Problem: Erstens hat J ständig Migräne und wenn er keine hat, muss er arbeiten. Zweitens fällt es mir unglaublich schwer, alleine unterwegs zu sein. (Was auch in Hamburg nicht so stark der Fall war!!! Ich verstehe nicht 100%ig, warum es hier so schlimm ist!!!)
Das alles heißt, dass ich von morgens bis abends, jeden einzelnen, versch*** Tag in dieser blöden Wohnung sitze. Das höchste der Gefühle ist, wenn wir mal für 15 Minuten in den Garten gehen. Wir haben hier nur ein Schlafzimmer, also kein Wohnzimmer. Aber das Schlimmste ist die Dunkelheit. Diese Dunkelheit!! ? Obwohl die Fenster für eine Kellerwohnung gar nicht so klein sind, ist es so unglaublich dunkel hier!! Und das deprimiert mich SOOOOooO sehr. Ich vermisse die Sonne so unendlich. Ich weiß noch, wie ich im Sommer jedes Mal mit Glücksgefühlen aufgewacht bin, wenn ich den Rollo hochgemacht hab und blauen Himmel gesehen hab! Oh Sonne, wie ich dich liebe.
Außerdem habe ich keine Freunde hier und durch Corona kann man auch nichts machen, z.B. mal ins Kino gehen oder essen gehen. Wir dürfen ja nicht mal zu meinen Eltern hoch, um z.b. Karten zu spielen, weil sie Angst vor Corona haben. Und es gibt noch eine andere Sache, die mich verrückt macht, die ich aber hier nicht schreiben kann.
Ich wusste schon im August, dass ich im Winter durchdrehen würde, wenn wir dann noch hier wären. Darum sagte ich damals immer wieder zu Jürgen, dass wir schneller sein müssen mit dem Van und dass ich nicht den Winter hier verbringen kann. Aber leider ging es nicht anders.
Als dann der Winter kam, war es anfangs noch erträglich, trotz der chronischen Migräne von Jürgen. Ich war noch motiviert, alleine am Van zu arbeiten (seit ca. Anfang Dezember überhaupt nicht mehr) und das Drinnen-Sitzen war noch so gemütlich. Mit Kerzenschein und Puzzlen und Backen… Dann kam die schöne Adventszeit und du musst wissen, ich liebe die Advents- und Weihnachtszeit. Aber immer danach… falle ich in ein Loch… das mal kleiner und mal größer ist. Weihnachten ist wie so eine Art Höhepunkt, man hat Geschenke gekauft und Plätzchen gebacken und dekoriert und freut sich so auf die schönen Familienfeiern… Und danach ist… nichts mehr. ? Kennst du das Gefühl?
Dann war es ja so, dass mein Neffe geboren wurde!!! Und zwar am 09. Januar 2021. ? Und ich bin vor Freude fast geplatzt! Es war ein so WUNDERSCHÖNES Ereignis, ich kann es nicht beschreiben. Aber Corona kann selbst das … ich will nicht „zerstören“ sagen, aber… Ich durfte nicht dabei sein, als meine Eltern zum ersten Mal ihr Enkelkind gesehen haben… Weißt du wie sehr ich mich seit Jahren auf diesen Moment gefreut habe? Die Freude in ihren Augen zu sehen, wenn sie das Baby meines Bruders kennenlernen? (Ich durfte die drei an einem anderen Tag alleine besuchen…)
Und jeder will weiterhin Abstand halten, obwohl wir doch zu nichts und niemandem Kontakt haben ? Ich darf den kleinen Emil nicht halten, ich darf meine Oma nicht umarmen… und Geburtstagsfeiern fallen aus, auf die man sich lange gefreut hat… Diese Isolation ist richtig schlimm. Ich dachte nicht, dass ich das mal sagen würde, weil ich eher menschenscheu bin. Ich will nicht wissen, wie es denen geht, die keinen Partner haben und extrovertiert sind und zu Depressionen tendieren!
Ohje, jetzt habe ich geschrieben und geschrieben und dabei nur gejammert… Aber ich weiß, dass du weißt, dass es gut tut, wenn man mal alles rauslässt. Ich fühle mich gerade auch so, als hätte ich richtig viel Frust rausgeschrieben.
So, und jetzt zu meinem Überlebens-und-wieder-lebensfroher-werd-Plan
- Ich muss mir gaaanz fest sagen, dass die schlimmste Zeit bald vorbei ist! Sobald Frühling ist, wird es mir besser gehen und sobald der dumme Extrem-Lockdown vorbei ist!
- Bis dahin ganz viel backen, auch wenn es Geld kostet und dick macht ?
- Jeden Tag rausgehen, auch wenn es nur 10 Minuten Tischtennis spielen sind!! Vielleicht auch die Katzen mit in den Garten nehmen und beobachten wie süss sie sind! Alles, nur nicht von morgens bis abends in einem Zimmer hocken!
- Tagsüber, wenn mein Vater in der Arbeit ist, ins obere Wohnzimmer gehen, weil es da viel heller ist und es ein Sofa gibt.
- Ein ganz fesselndes Buch finden! Das würde mich jetzt auch ein wenig retten. Vielleicht einen Lesemarathon filmen!! Das hat mir letztes Mal richtig Spaß gemacht!!
- Ein Backvideo mit J machen, sodass er filmt und ich erkläre wie ein Rezept geht. Er hatte bisher keine Lust darauf, aber er kann das ja für mich machen, oder??
- Einen ein-wöchigen Urlaub in einem AirBnb in Deutschland buchen (hoffentlich am 15.02.)
- Den Geburtstag meines Vaters feiern, eine tolle Torte dafür backen und Emil im Arm halten
- Die Geburtstage von J’s Eltern feiern und die ganzen lieben Leute und die kleine Laura sehen
- Danach unsere Freunde in Hamburg besuchen, ihren kleinen Sohn endlich kennenlernen und meinen Geburtstag da feiern
- Dann den Van soweit haben, dass man darin schlafen kann und die Heizung geht. Dann kleine Ausflüge damit machen, irgendwo in der Natur
- Und zum Schluss: Einen Ort finden (egal ob im Ausland oder in Deutschland), an dem wir unseren Van weiter ausbauen können. Ich will nämlich nicht noch ein Jahr hier verbringen. Und meine Idee ist, bei Urlaub-gegen-Hand etwas zu finden, wo man eine Wohnung oder ein Häuschen hat und in der Nähe den Van parken kann. Ich hab gestern sogar schon mehrere Leute angeschrieben.
Es gibt doch so viel Schönes, was noch auf mich wartet! …Aber… wenn der Lockdown weitergeht? ? Dann fällt fast alles davon weg!… Bitte nicht! Vielleicht ist das auch ein Grund, warum es so schwer für die Menschen ist… Weil sie nicht wissen, wann es endlich wieder normaler wird… Und für eine depressive Person, die nur Dunkelheit sieht und sowieso denkt, dass es immer dunkel bleiben wird, ist es nochmal schwerer, positiv in die Zukunft zu blicken.
Aber ich versuche es jetzt wieder. Mit all meiner Kraft. Denn ich will nicht weiter untergehen…
Vielleicht wird mir ja auch das Schreiben hier helfen.
Danke liebe Pia, dass du bis hierhin gelesen hast…
Und wenn du magst, schreib mir doch, wie es dir zur Zeit ergeht. ?
Babsi
Hallo Ingrid,
super, dass du einen Plan gemacht hast, wie es für dich wieder besser werden kann.
Vielleicht hilft dir ein anderer Blickwinkel, du schützt mit deinen Verhalten und Abstand halten deine Oma, deine Eltern und deinen kleinen Neffen.
Eventuell findest du auch ein paar Dinge, die trotz Lockdown möglich sind und dich begeistern? Malst du noch? Hab deine bullet Journal Videos geliebt. Oder du gehst nicht raus zum spazieren, sondern um zu fotografieren.
Oder du schaust, wie du ohne die Hilfe von J. Das Backvideo machen kannst.
Und zu Letzt, auch im Van wird es Mal dunkel und schlechtes Wetter sein, vielleicht ist diese Zeit jetzt ein ganz guter Test oder Vorbereitung.
Alles Liebe
Pia
Liebe liebe liebe Ingrid,
zum Antworten komme ich jetzt, da beide Kinder noch schlafen (oder wieder, kommt darauf an, wann ich das hier abschicke). Das beantwortet wahrscheinlich auch schon deine erste Frage: Ich bin viiiiiel mit den Jungs allein. Mein Großer ist nun seit zwei Monaten nicht mehr in der Kita gewesen und langeweilt sich furchtbar. Mein Kleiner ist ja genau zum Beginn des ersten Lockdowns geboren, kennt es noch nicht anders und ist glücklich, wenn er nur zwischen uns herumwuseln kann. Mein Partner ist mit Uni und Arbeit ziemlich eingespannt. Ja, das letzte Jahr war das einsamste, das ich erlebt habe. Und trotzdem weiß ich auch, dass ich irgendwie Glück hatte, genau in diesem Jahr ein Baby zu bekommen. Wahrscheinlich hätte mein Alltag kaum anders ausgesehen… Wobei meine Vorstellung war: Gemütlich aufwachen und meinen Großen zur Kita bringen, mit dem Kleinen spazieren gehen, Freundinnen treffen, in Cafés herumhängen… nachmittags mit der Familie ans Wasser. Nachdem ich bei meinem Großen im ersten Babyjahr vor allem mit Wochenbettdepressionen gekämpft habe, hatte ich die Hoffnung, dass es jetzt bei T. anders würde, leichter. Ein großer Teil meiner Familie kennt T. noch gar nicht! Und bei allen ist die Sehnsucht so groß wie bei dir.
Herzlichen Glückwunsch zum Tante-Sein! Emil ist so ein wunderschöner Name! (Hihi, er hat übrigens genau einen Tag nach mir Geburtstag.) Ich hoffe sehr, dass sich die Situation schnellstmöglich so entspannt, dass du ihn in deine Arme schließen und den warmen Babyduft einatmen kannst!
Diese Ungewissheit darüber, wie es weitergeht (weitergehen kann) zerfrisst mich auch. Das geht sicher vielen so, aber ja, wenn man mit Depressionen zu tun hat (so wie ich auch), raubt sie den letzten Fixpunkt. Ich habe vor kurzem mit Schrecken realisiert, dass die Stunden meiner Langzeittherapie bald aufgebraucht sind und ich dann zwei Jahre warten muss, ehe ich eine neue beantragen kann. Das lässt mich ratlos zurück, vor allem, weil es mir nicht wirklich besser geht, auch wenn ich viiiel stabiler bin. Als wäre das alles, was ich erwarten kann: Dass mir die Sch**** nicht entgleitet, fürs glücklich(er) sein reichen die bezahlten Stunden nicht.
Großer Bogen: Ich LIEBE deine schreibende Herangehensweise an Struktur. Liebe es, deine Listen zu lesen, die auch mir oft Mut machen.
Hier eine Liste für dich, mit Dingen, die mir ab und zu den Tag retten können:
– Kaffee (heiß und schnell getrunken)
– Duftöl (Lavendel oder Grapefruit)
– Yoga (ich habe Anfang Januar mit der 30-Tage-Challenge von Yoga with Adriene begonnen und mache seitdem täglich Yoga und manchmal könnte ich weinen auf der Matte, weil ich ihre Stimme höre und sie sich wie eine Freundin anfühlt)
– Laufen (mache ich am Wochenende, wenn mein Partner da ist, bis ich so erschöpft bin, dass ich weniger Angst spüre und für einen kleinen Moment sogar zufrieden bin)
– Aufräumen (auch wenn ich alle damit nerve)
– lesen und mein Abo bei BookBeat (kennst du bestimmt? Ich komme selten zum richtigen lesen, aber Hörbuch hören kann man ja auch beim Spazierengehen und Kochen…)
– Leben Schreiben Atmen von Doris Dörrie
– Zimtschnecken
– Atemübungen aus dem Yoga, wenn gar nichts mehr geht
– Fühler ins Internet ausstrecken
– Die His Dark Materials Reihe von Philip Pullmann (die Bücher liebe ich seit Ewigkeiten, sie wurden jetzt von BBC und HBO zu einer fantastischen Serie gemacht, die (für mich) so richtiges Abtauchen ermöglicht)
– Stricken (im Moment süße Sachen für meine Kinder, zähmt meinen Wirbelsturm im Kopf und gibt mir das Gefühl, etwas „geschafft“ zu haben)
– der vorsichtige Gedanke, meine Kamera mal wieder in die Hand zu nehmen (war viel zu lange viel zu dunkel)
– Kerzenlicht
Was du zum Rausgehen schreibst: Mir geht es genauso, wenn ich meine Mutter im Elternhaus besuche. Niemals hätte ich das Verlangen, dort durch die Gegend zu laufen (und womöglich noch Bekannte von früher zu treffen). Ich hatte dort eine furchtbare Zeit und kann diese Orte auch meistens nur durch die Brille meiner Kindheit und Jugend sehen, obwohl sie objektiv wahrscheinlich sogar ganz schön sind. Wenn ich mit meinem Großen spazieren gehe (und ich versuche, wenigstens alle zwei bis drei Tage rauszugehen, weil wir sonst alle durchdrehen), spielen wir hier oft ‚neue Wege finden‘ und suchen nach Straßen und Orten, die wir noch nicht kennen. Das schafft mir manchmal einen Perspektivwechsel. Wobei das in der Heimat vermutlich schwer(er) ist, wenn mal so viele Jahre dort verbracht hat.
Die Kinder „zwingen“ mich oft dazu, Routinen einzuhalten, die Wohnung zu verlssen… Ohne dieses „Müssen“ hätte ich mich bestimmt schon längst im Bett vergraben.
Ich hoffe, dass sich die Sonne bald blicken lässt, ihre Strahlen in eure Kellerwohnung streckt und deine Nase kitzelt! Ich freue mich immer, etwas von dir zu lesen oder zu sehen!
Danke für das Gefühl, nicht allein zu sein.
Ciao Kakao (wie mein Großer sagen würde) und bis bald!
Deine Pia